«Die Flucht in ein neues Leben» – Teil 1

Elahe Mosavi lernt den Beruf Fachfrau Gesundheit. Sie hat als Thema der  Vertiefungsarbeit (VA) im 3. Lehrjahr die Flucht ihrer Familie aus dem Iran in die Schweiz aufgearbeitet. In einem ersten Teil der Arbeit beschreibt sie die Flucht aus Sicht eines fünfjährigen Mädchens. Es ist unglaublich, an welche Details der Reise sie sich noch zu erinnern vermag. Ihre Arbeit trägt den Titel «Die Flucht in ein neues Leben».

Im 1. Teil erzählt sie, wie sie die Flucht von Teheran über die Türkei, den Balkan in die Schweiz erlebte.

Im 2. Teil beschreibt sie, wie sie und ihre Familie die ersten Jahre in der Schweiz erlebten.

Teheran, April 2000 – Wie alles begann

Es war ein warmer, sonniger Morgen. Ich hörte meine Mutter von der Küche aus meinem Vater hinterherrufen: „Hast du alles eingepackt?“ Es war Zeit für den Kindergarten. Ich zog mir noch mein Kopftuch an und nahm mir meine Brötchen, die meine Mutter für mich zubereitet hatte. Mein Bruder war auch schon fertig für die Schule. Wir warteten gemeinsam vor der Haustür, damit mein Vater uns begleitete, wie jeden Morgen.

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Elahe Mosavi als vierjähriges Mädchen in Teheran

Mit dem Taxi fuhren wir in den Kindergarten und in die Schule. Beides war in demselben Gebäude. Nach einem Abschiedskuss fuhr mein Vater nach Hause, mein Bruder ging in die Klasse und ich wurde auch schon in meiner Gruppe erwartet. Es war ein schöner Tag, da mein Bruder in der Pause zu mir kam und mir ins Ohr flüsterte: „Elahe, Papa hat einen Kuchen für uns und die Klassen mitgebracht.“ Keiner von uns fragte sich, für was dieser Kuchen war. Dieser Morgen ging schnell um, in meiner Gruppe durften wir malen und Kuchen essen. Es war wie im Traum. Über den Mittag klopfte es dann plötzlich an der Tür. Es war mein Vater, an seiner Hand war mein Bruder. Er kam um mich abzuholen. Er bedankte sich ganz herzlich bei meiner Lehrerin und verabschiedete sich von ihr. Er sagte zu mir: „Komm Elahe, winke deinen Freundinnen.“ Ich drehte mich um und sagte meiner Gruppe, dass sie den Kuchen nicht fertig essen sollen, da ich morgen auch noch ein kleines Stück haben möchte. Jetzt sitzen wir wieder in einem Taxi. Mein Bruder durfte ausnahmsweise einmal vorne sitzen und ich sass hinten, auf dem Schoss von meinem Vater. Jedes Mal, wenn das Taxi über einen Stein oder ein Loch fuhr, schlug ich meinen Kopf an der Decke an. Ich konnte es kaum erwarten nach Hause zu kommen, um meine Mama zu sehen, und um ihr zu erzählen, dass wir heute einen Kuchen vom Vater erhalten haben.

Irgendetwas fühlte sich nicht nach Ferien an.

Es ging nicht lange, bis mein Bruder und ich bemerkten, dass wir gar nicht nach Hause fuhren. Wir hielten in einer kleinen Gasse an. Es warteten so viele Menschen dort auf uns. Zuerst dachte ich, dass sie alle auf ein Taxi warten. Je näher wir diesen Menschen dann entgegengelaufen sind, desto klarer wurde mir, dass es meine eigene Familie war. Alle waren am Weinen und ich sah so viele Koffer. Ich wusste nicht, wie es um mich geschah. Ich sah meine Mutter weinen und fragte sie, was los sei. Sie antwortete: „Wir gehen in die Ferien.“ Ferien, dachte ich? Warum weinen denn alle? Wir kommen ja bald zurück. Ich bekam kaum Luft, da mich alle festhielten und umarmten. Sobald jemand mich los liess, packte mich schon der nächste. Irgendetwas fühlte sich nicht nach Ferien an.

Der Weg vom Iran bis in die Schweiz

Ein zweistöckiger Bus hielt vor unseren Füssen an, mit vielen unbekannten Gesichtern darin. Dieser Bus fuhr bis fast an die Grenze von der Türkei. Meine Mutter hielt meine Hand ganz fest. Mein Bruder blieb bei meinem Vater an der Hand. Der Busfahrer stieg aus und half unser Gepäck einzuladen. Im oberen Stock hatte es noch vier Plätze frei. Ich sah viele traurige Gesichter und dieses Gefühl bestätigte mir, dass dieser Bus nicht in den Urlaub fahren wird. Es wurde langsam dunkel und ich merkte, wie sich alle die Jacken anzogen. Der Bus stand still und alle stiegen aus. Sie nahmen sich ihr Gepäck und warteten draussen. Worauf warteten wir den alle eigentlich? Ich musste dringend auf die Toilette, da ich es kaum noch aushalten konnte. Meine Mama nahm meinen Bruder und mich an die Hand und begleitete uns in eine Ecke, damit wir auf die Toilette gehen konnten. Sie flüsterte uns ins Ohr mit einer zitternden Stimme: «Geht jetzt auf die Toilette und lasst euch Zeit, denn ihr könnt danach für eine Weile nicht mehr auf die Toilette». Das ganze wurde immer seltsamer für mich. Plötzlich hörte ich einen Mann mit einer sehr tiefen Stimme, der uns sagte: «Kommt Leute es geht los.» Ich sah wie alle Elternteile ihre Kinder festhielten. Das Gefühl von Angst kam in mir hoch. Gemeinsam liefen wir dem Mann mit der tiefen Stimme hinterher in den Wald.

Wir liefen und liefen immer tiefer in den Wald. Nach einigen Stunden machten wir eine Pause. Ich hatte kalt und war hungrig. Mit Hilfe von einigen Taschenlampen konnten wir ein Tuch auf dem Boden ausbreiten und uns hinsetzen. Alle teilten ihr Essen mit den anderen, obwohl sich keiner kannte. Es gab Sandwiches und Fruchtsaft, die meine Mama für uns vorbereitet hatte. Nach einer kleinen Pause standen wir gemeinsam auf, packten unsere Sachen zusammen und liefen weiter. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, ich war müde und meine Füsse konnten kaum mehr weiter laufen. Es war so dunkel und alle flüsterten. Durch den Tag hielten wir uns in kleinen Hütten im Wald auf und sobald es dunkel wurde, ging es weiter. Tage vergingen, bis wir aus dem Wald hinaus kamen.

Ein grosser Lastwagen und ein kleiner Bus warteten auf uns. Es hiess, dass wir unser Gepäck in dem kleinen Bus deponieren können, damit wir nicht so viel Last bei uns tragen müssen. In unseren Koffern waren unsere Pässe sowie viele Alben mit Bildern darin. Alle Bücher, die meine Mama mitnehmen wollte und Essen. Danach hiess es, dass wir in den Lastwagen rein müssen und es eine sehr lange Fahrt werden wird. Wir waren so viele Menschen. Ich wunderte mich, wie alle hier drin Platz hatten. Mit der Zeit wurde es immer wärmer und stickiger. Man bekam kaum Luft, da so viele Menschen in diesem Lastwagen waren. Ich bekam Platzangst. Es gab nicht mehr viel zu trinken. Wir hatten viele schwangere Frauen und Kleinkinder unter uns. Einige Zeit später hielt der Lastwagen an und der Chauffeur sagte zu uns allen, ab hier müssten wir rennen, da viele Polizisten aus dem Balkan auf der Suche nach Flüchtlingen seien. Als der Lastwagen anhielt, hörte ich von aussen Stimmen von Männern. Als die Tür aufging, wurden mit Taschenlampen auf uns gezeigt. Wir wussten nicht, ob es die Polizei war oder Menschen, die uns helfen wollten.

Ich schrie nach meiner Mama. Mir war nicht klar, dass es so viele Mütter unter uns gab und jede sich betroffen fühlen konnte.

Diese Männer fingen an, uns an den Armen an zu reissen, sie schupften uns alle in die gleiche Richtung. Alles ging so schnell und plötzlich schaute ich links und rechts. Meine Familie war weg. Ich fing an zu schreien. Ich konnte nichts sehen, alles war so dunkel. Von weitem hörte ich, wie meine Mutter weinend nach mir suchte und immer wieder meinen Namen rief. Es standen so viele Menschen vor mir, die verzweifelt ihre Familie suchten. Ich war so klein und keiner konnte mir helfen. Plötzlich packte mich ein fremder Mann an der Hand und zog mich mit. Ich wehrte mich und fing an zu schreien. Ich schrie nach meiner Mama. Mir war nicht klar, dass es so viele Mütter unter uns gab und jede sich betroffen fühlen konnte. Ich konnte das Gesicht von diesem Mann nicht erkennen. Ich versuchte mich nach den Stimmen von all den schreienden Menschen zu orientieren. Es ging um unser Leben, da gab es keine Zeit um nachzudenken und die eigne Familie zu finden. Jeder packte sich jemanden und rannte los. Frauen, Kinder und schwangere Frauen wurden nach vorne geschleppt. Ich konnte einfach nicht mehr rennen. Ich war in einem Schockzustand. Mir liefen die Tränen und irgendwann merkte ich, dass es hoffnungslos ist, zu weinen. Ich wusste nicht, ob ich meine Familie je wiedersehen würde.

Was erwartete er auch von mir? Ein Schritt von ihm waren fünf Schritte von mir.

Dieser unbekannte Mann merkte dann mit der Zeit, dass ich kaum Luft bekam von dem ganzen Rennen. Was erwartete er auch von mir? Ein Schritt von ihm waren fünf Schritte von mir. Er hob mich hoch auf seinen Schultern und rannte weiter. Plötzlich rief eine Frau, dass es nicht weiter geht. Wir müssen einen Fluss überqueren. Es war nicht nur ein Fluss, es war ein Fluss mit einer gewaltigen Strömung. Alle hielten vor einer Klippe an. Einige Männer kletterten nach unten, um auf die andere Seite wieder hoch zu klettern. Einige Männer blieben unten und versuchten sich durch die Strömung zu kämpfen, um alle aufzufangen, die hinunterfielen und es nicht auf die andere Seite schafften. Dann ging es los. Sie nahmen die Kinder als erstes und warfen uns auf die andere Seite. Nach den Kindern kamen Frauen und anschliessend alle anderen. Auf der anderen Seite angekommen, versammelten sich alle. Gemeinsam warteten wir, bis der letzte es geschafft hatte. Dieser eine Mann mit der tiefen Stimme. Er war unser Führer. Nur er wusste, in welche Richtung wir rennen müssen.
Zehn Tage ging das so weiter bis wir angekommen sind. Wo waren wir eigentlich? In der Schweiz? (Fortsetzung folgt)


 

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